Wenn aus gewaltfreier Kommunikation kommunikationsfreie Gewalt wird
- Nina Müller-Peltzer
- 9. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Wie toxische Nettigkeiten und unausgesprochene Missstände eine Kultur der stillen Akzeptanz fördern
Gewaltfreie Kommunikation ist ein Konzept von Marshall B. Rosenberg. Ziel ist es, Konflikte zu lösen und Gespräche so zu führen, dass gegenseitiges Verständnis und Empathie gefördert werden. Die Methode basiert auf vier Schritten: Beobachtung ohne Bewertung, das Ausdrücken von Gefühlen, das Erkennen von Bedürfnissen und das Formulieren von Bitten. Zahlreiche Studien, darunter eine Meta-Analyse von Bowers & Moffett (2012), zeigen, dass GfK Konflikte deeskalieren und das Miteinander verbessern kann. Allerdings: nur wenn sie richtig verstanden und angewendet wird.

gewaltfreie Kommunikation – fluch Oder Segen für unternehmen?
In vielen Unternehmen hat sich GfK als Standard etabliert. Grundsätzlich erstmal eine großartige Neuerung in einer Arbeitswelt, die über viele Dekaden einen doch eher rauen Umgangston mit hierarchischer Schärfe, Ellenbogenmentalität und nicht selten mit einer chauvinistischen, Frauen degradierenden Sprache, geprägt war. Ich sag nur "Fräulein", "Tippse", "Mädchen für alles".
Heute sind wir zum Glück einige Schritte weiter – und schlagen uns dennoch mit dem Problem falscher Kommunikation rum. Nämlich dann, wenn gewaltfreie Kommunikation falsch interpretiert und fehlerhaft angewandt wird. Denn dann führt sie nicht zu einem ehrlicheren Umgang, sondern zu Sprachlosigkeit und einem Klima des Schönredens.
Das Problem: Wenn nicht mehr klar benannt werden kann, dass etwas, oder vielleicht sogar jemand dauerhaft schlechte Arbeit abliefert, weil man Angst hat, als „unkollegial“ zu gelten, dann entsteht keine Empathie – sondern Passivität. Dabei geht es keineswegs darum, einander an den Pranger zu stellen oder vor den Kollegen und Vorgesetzten vorzuführen, denn dann wären wir wieder bei unserem Gesprächsmuster aus früheren Jahren (s.o. Ellenbogenmentalität). Es geht vielmehr darum, Mitarbeitende zu befähigen, klar und nachvollziehbar auf Missstände hinzuweisen. Denn nur das verbessert die Zusammenarbeit.
Studien zeigen:
Laut einer Gallup-Studie von 2023 geben 43 % der Beschäftigten in deutschen Unternehmen an, dass ehrliches, direktes Feedback in ihrem Team nicht möglich ist.
In einer Umfrage von StepStone (2022) fühlen sich 37 % der Befragten von einer „toxischen Nettigkeit“ ausgebremst, bei der Kritik tabu ist und Konflikte unter den Teppich gekehrt werden.
Das Resultat:
Unproduktive Harmonie
Fehlende Problemlösungskompetenz
Burn-out bei High-Performern, die die Schwächen anderer mittragen
Stagnation, weil niemand sich traut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen
Silent Quitting oder "Dienst nach Vorschrift", weil Missstände nicht behoben werden
Unwucht im Team durch trittbrettfahrende Kollegen oder Kolleginnen
Die Folge:
Und genau hier liegt oft das Missverständnis bei der Umsetzung gewaltfreier Kommunikation. Wenn nämlich aus dem Reflex heraus, niemandem wehtun zu wollen, die Situation überhaupt nicht zur Sprache gebracht wird. Damit begibt sich das Team kollektiv in eine Art Schonhaltung, und mittelfristig – im wahrsten Sinne des Wortes – in Schieflage.
3 Ansätze wie gewaltfreie Kommunikation das Arbeitsklima verbessert und die Produktivität im Team steigert
Zunächst mal ist es wichtig, anzuerkennen, dass Missstände in den meisten Fällen die Arbeit einzelner oder mehrerer Teammitglieder betrifft. Das ist erstmal ganz normal in einer Arbeitsstruktur, in der mehrere Menschen zusammenarbeiten. Totschweigen und Aussitzen von Missständen greift bei der Lösung ihrer immer zu kurz. Die Dinge müssen auf den Tisch, um geklärt zu werden.
Selten ist dabei der Grund das professionelle Unvermögen, dass eine Person nicht wertvoll in ihrer Aufgabe wirken lässt. Die wenigsten Kollegen nutzen ihre Teamkollegen wirklich aus und verstecken sich hinter den Leistungen anderer. Die meisten Menschen haben einen persönlichen Anspruch, ihre Arbeit gut zu erledigen und nach ihren Maßstäben erfolgreich abzuschließen. Gelingt ihnen das nicht, sind sie oft selbst sehr unzufrieden und möchten den Umstand ändern.
Befähigen von Mitarbeitenden
Wenn wir also aus dem Teamverständnis heraus den Gedanken zulassen, dass ein Kollege oder eine Kollegin in ihrer Aufgabe nicht im Sinne des Teamziels funktioniert oder funktionieren kann, werden die darumliegenden systemischen Probleme sichtbar.
Und hier zeigt sich nun das eigentliche Potential gewaltfreier Kommunikation. Wer hier nun die richtigen Fragen stellt, aufmerksam zuhört, wertschätzend und aufrichtig an einer Lösung interessiert ist, schafft eine gesunde Fehlerkultur.
Fragen, die sichtbar machen können, was strukturell geändert werden muss um Wirksamkeit zu erhöhen, sind:
Was ist die Herausforderung, der Missstand, das Problem?
Wann äußert sich das und in welchem Zusammenhang?
Wer trägt die Verantwortung in diesem Bereich?
Welche Herausforderungen hast du (verantwortliche Person) hier zu bewältigen?
Was fehlt dir, um die Aufgabe besser/schneller/effizienter zu lösen?
Wo können wir dich unterstützen?
Was würde aus deiner Sicht den Ablauf besser strukturieren?
Die Fragen zeigen, dass es bei der Identifizierung nicht um die Person selbst geht, sondern um ihre Arbeit und der strukturelle Rahmen, innerhalb dessen die Arbeit erfolgen soll.
In der Regel fehlen den verantwortlichen Personen gewisse Werkzeuge, Zugänge oder Mandate, um die Aufgaben zu erfüllen. Unrealistische Deadlines oder zuviele verschiedene Aufgaben können ebenfalls die produktive, konzentrierte Umsetzung behindern. Im seltensten Fall sind es die Personen selbst und wenn sie es sind, nutzen sie diese offenen, aufrichtigen Lösungsgespräche meist, um ihren Handlungsrahmen neu zu definieren.
Ressourcenallokation
Häufig verändern sich Rollen und Aufgaben im Laufe der Zeit und Mitarbeitende sehen sich plötzlich Verantwortlichkeiten gegenüber, die sie fachlich gar nicht ausführen können, da sie ursprünglich für eine andere Tätigkeit eingestellt worden waren. Das fachliche Vermögen für eine Rolle fehlt schlichtweg.
Richtig adressiert ist auch diese Erkenntnis für alle Beteiligten eher eine Chance, denn ein echtes Versagen. Denn auch hier gilt es, sich im Rahmen der gewaltfreien Kommunikaion im Team bewusst zu werden, dass nicht die Person selbst "falsch" ist, sondern die Zuteilung der Aufgaben dem fachlichen Vermögen nicht entspricht. Wird dies als Grund des Missstandes identifiziert, können Führungspersonen gemeinsam mit ihrem Team eine neue Arbeitsverteilung vornehmen und betroffene Personen in passendere Rollen bringen.
Wir haben alle nichts davon, Menschen an Aufgaben arbeiten zu lassen, denen sie nicht gewachsen sind, vor allem dann nicht, wenn sie die Produktivität des restlichen Teams behindert.
Gefährlicher ist das Potential falsch angewendeter gewaltfreier Kommunikation allerdings bei Personen, die sich aktiv und bewusst hinter ihren Kollegen und deren Arbeit verstecken. Richtig angewandt, entlarvt sie aber auch diesen Umstand.
Identifikation von Trittbrettfahrern
In schweren Fällen unterbindet falsch angewandte gewaltfreie Kommunikation nicht nur aufrichtige Kritik, sondern verhindert die Bildung einer gesunden Fehlerkultur. Trittbrettfahrende Mitarbeitende erkennen früh, wie sie sich in dieser Kultur verstecken können. Sie nutzen die Stille, um Verantwortung zu vermeiden, sich Arbeit bequem vom Hals zu halten oder die Leistungen anderer für sich zu reklamieren. Hinter einem Schutzschild der Nettigkeit liefern sie unterdurchschnittlich ab, vermeiden Verantwortung, beanspruchen aber dennoch Teilhabe an den Erfolgen des Teams. Sie profitieren von der Schweigekultur, ohne selbst zum Fortschritt beizutragen – oft gut integriert, charmant und unangreifbar, weil niemand den Konflikt riskieren will.
Befinden sich die Personen dann auch noch in einer Führungspositionen, ist das ein fatales Signal für alle, die Verantwortung übernehmen wollen. Denn echte Fehlerkultur entsteht nicht durch kollektives Schweigen, sondern durch mutige Gespräche auf Augenhöhe. Dabei sollte es nie darum gehen, ob Missstände angesprochen werden dürfen – sondern wie.
Das ganze Potential gewaltfreier Kommunikation
Genau hier liegt das Potenzial der gewaltfreien Kommunikation: Sie gibt uns ein Instrument an die Hand, um auch schwierige Beobachtungen respektvoll, aber klar zu benennen. Sie ermöglicht es, Verantwortung dort zu verorten, wo sie hingehört – ohne zu verletzen, aber auch ohne auszuweichen.
Transparente Fragen, regelmäßige Austauschformate und die ganzheitliche Betrachtung von Aufgaben, Zuständigkeiten und tatsächlichem Beitrag machen Trittbrettfahrertum sichtbar. Und sie schaffen Raum für Konsequenzen, die fair sind – gegenüber dem Einzelnen, aber vor allem gegenüber dem Team, das Leistung bringt.
Richtig angewandt wirft gewaltfreie Kommunikation Licht ins Dunkel: Sie zeigt die wahren Ursachen hinter Stillstand, Demotivation oder Frust. Und sie hilft, wieder in Bewegung zu kommen – als Team, als Organisation, als Führungskraft.
7 Maßnahmen für gewaltfreie Kommunikation
Gewaltfreie Kommunikation als Werkzeug, nicht als Dogma begreifen: Gewaltfreie Kommunikation heißt nicht, unangenehme Wahrheiten zu vermeiden. Sie heißt, diese respektvoll zu adressieren.
Fehler benennen dürfen: Führungskräfte müssen den Rahmen schaffen, in dem Probleme konkret angesprochen werden dürfen – ohne Abwertung, aber auch ohne Vernebelung.
Klarheit statt Floskeln: Aussagen wie „Ich spüre, dass wir hier noch Potenzial haben“ helfen nicht. Besser: „Was brauchst du, um diese Aufgabe umzusetzen? Welche Maßnahmen schlägst du vor, um den Prozess optimieren?“
High-Performer schützen: Teams brauchen Schutz vor Trittbrettfahrern. Dazu gehört auch, die Leistungen Einzelner sichtbar zu machen und zu würdigen.
Verantwortung teilen und tragen: Ein verantwortungsvoller Umgang mit Erfolgen und Misserfolgen ist unerlässlich. Dazu gehört zum einen als Teammitglied Verantwortung für die eigene Arbeit zu übernehmen, aber auch als Team Lead die vorhandenen Talente an den richtigen Stellen zu platzieren.
Moderierte Konfliktgespräche etablieren: Regelmäßige Team-Retrospektiven mit externer Moderation helfen, blinde Flecken aufzudecken.
Gewaltfreie Kommunikation leben: Einmal drüber reden, hilft meist nicht. Regelmäßige Gesprächs- und Feedbackrunden garantieren Transparenz und schnelle Reaktion, sollten Missstände und Herausforderungen auftreten.
Fazit
Gewaltfreie Kommunikation kann ein starkes Werkzeug sein – aber nur, wenn sie nicht als Maulkorb missverstanden wird. Klarheit, Ehrlichkeit und Respekt gehören zusammen. Und für einen erwachsenen Menschen in einem professionellen Kontext sollte saubere, klare Kommunikation ohnehin Voraussetzung für die Arbeit im Team sein. Wertschätzend und aufrichtig vorgetragen, können so schon ohne viele Regeln Herausforderungen und Probleme angesprochen und gemeinsam gelöst werden. Wer jedoch Konflikte nur weichspült, sorgt langfristig für Frust und Leistungsabfall.
Mein Tipp: Schauen Sie genau hin, welche Kommunikationskultur in Ihrem Unternehmen herrscht. Fragen Sie Ihre Teams: Fühlen wir uns sicher, ehrlich miteinander zu sprechen – auch über Fehler? Wenn die Antwort Nein lautet, ist es Zeit, neu anzusetzen. Ich unterstütze Sie gerne mit einem passgenauen Coaching für Sie und Ihre Mitarbeitenden.